Der Kreuzstadl in Rechnitz
In Rechnitz gehen Clasien und ich vom Hauptplatz zum Kreuzstadl. Dort wurden in der Nacht vom 24. auf den 25. Marz 1945 ca. 200 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter ermordet. Im nahegelegenen Schloss Batthyány fand an jenem Abend ein NSDAP-Kameradschaftsfest statt. 15 Teilnehmer verließen das Fest, ermordeten die Juden, und feierten danach weiter. Die Leichen wurden verscharrt, bis heute weiß man nicht genau, wo das Massengrab ist. Drei Personen wurden verurteilt, die Hauptverdächtigen wurden nie ausfindig gemacht.
Am Weg zum Kreuzstadl wurde 2012 ein Informationsbereich errichtet. Inhaltlich wurden folgende Schwerpunkte gesetzt: Das Judentum im heutigen Ungarn und Burgenland. Der „Südostwallbau“. Jüdinnen und Juden beim „Südostwallbau“. Tatorte. Tatort Kreuzstadl. Lebensgeschichten. Das Massaker vor Gericht.
Die Kanzleikraft der NSDAP-Kreisleitung sagte aus, dass sie die Männer, die sie in der Nacht zusammentrommelte, und die das Fest verließen, nicht kannte. Sie kann sich an die Namen nicht erinnern.
Die Grundmauern des Kreuzstadls ragen mächtig in den Himmel.
Frisch gemähter Rasen innen und außen.
Es ist still, unglaublich still.
Das Fest fand woanders statt.
Drüben im Schloss. Im Schloss, das es nicht mehr gibt.
Im Schloss, das abgetragen wurde.
Die Erinnerung ist tief vergraben.
200 Menschen waren nicht leise.
Damals vor 78 Jahren und 165 Tagen.
Man hörte die Schüsse.
Das Unvorstellbare zerfetzte die Stille.
Niemand kann sich an die Namen der Männer,
die das Fest verließen, erinnern.
Vergessen die Namen derer,
denen man danach täglich begegnete.
Sie werden nicht preisgegeben.
Es waren lauter Alte und Kranke.
Sie stützten sich gegenseitig.
Sie konnten kaum noch aufrecht stehen.
Ihr Leiden wurde beendet.
Jetzt, wo wieder alle davon reden
taucht die dunkle Nacht auf.
Und das Glitzernde und die schönen Kleider,
die wir nie haben werden.
Die dunkle Nacht,
die wir nie wieder haben wollen.
Haben die 200 Menschen geschrien?
Waren sie zornig und haben sie die Männer
und deren Nachkommen verflucht?
Haben die Schüsse sie vor Schreck erstarren lassen?
Haben sie geweint?
Auf der Busfahrt nach Hause geht mir die Frage „Was hat das mit mir zu tun?“ nicht aus dem Kopf.
Ich bin in Güssing geboren, ich war Kind im Burgenland. Mit 10 Jahren hat man mich nach Graz verfrachtet. Dass es in Güssing eine jüdische Gemeinde gab, war mir lange nicht bewusst. 1859 lebten 766 Jüdinnen und Juden in Güssing. Es gab eine Synagoge. Sie wurde 1840 erbaut, 1938 zweckentfremdet (so steht es tatsächlich in einem Interneteintrag) und 1953 abgerissen. 1938 lebten 75 Jüdinnen und Juden in Güssing. 17 Personen überlebten nachweislich den Holocaust. Die Familie Latzer kehrte nach dem Krieg nach Güssing zurück. Ich wusste das alles nicht, erst sehr viel später habe ich darüber gelesen. Am Platz der Synagoge von Güssing steht heute das Rathaus und ein Kino. Ich habe dort meine ersten Filme auf großer Leinwand gesehen.
Der Name Latzer ist mir ein Begriff. Der Jude Latzer wurde in meiner Familie erwähnt. Mein Vater spielte mit ihm Karten. Mein Vater, der bei der Hitlerjugend war, der in Marburg (heute Maribor) in der Landwehrkaserne die Lehrerbildungsanstalt besuchte und der sich mit 17 Jahren freiwillig zur Luftwaffe meldete und in Ostpreußen im Kreis Gumbinnen kämpfte. Als den Russen der Durchbruch durch die deutschen Verteidigungslinien gelang, floh mein Vater. Nach dem Krieg, beendete er seine Ausbildung als Lehrer in Graz. Ich wusste das alles nicht, viele Jahre später, als mein Vater nicht mehr lebte, erzählte mir sein Schulkollege von den gemeinsamen Kriegserlebnissen.
Ich weiß nicht, ob es wirklich stimmt, dass mein Vater mit Nikolaus Latzer Karten spielte. Ich wünsche mir, dass es so gewesen ist.
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